Meyers Römischer Brunnen: eine Korrektur


von Rolf-Peter Wille




Conrad Ferdinand Meyer



         Der Römische Brunnen


Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
     Und strömt und ruht.

Konrad Ferdinand Meyer, 1882

(English translation here)




Johann Wolfgang von Goethe: Blick vom Pincio in Rom



Wer — arme Gymnasiasten ausgenommen — hätte sich nicht einmal in dieses Gedicht verliebt? Warum nur? "Aufsteigt der Strahl"? Entsetzliche Grammatik! Lasst uns endlich einmal, damit man sie versteht, diese schrägen Verse wieder gerade biegen! Zunächst in Prosa:

"Der Strahl steigt auf, fällt und gießt die runde Marmorschale voll, welche sich verschleiert und in den Grund einer zweiten Schale überfließt; da die zweite zu voll wird, gibt sie ihre wallende Flut der dritten, und jede nimmt, gibt, strömt und ruht zugleich."

So klingt es doch bereits sinnvoller. Mit ein paar Kniffen kann ich diesen Satz leicht in’s Meyersche Versmaß gießen:

Der Strahl steigt auf; er fällt und gießt
Die runde Marmorschale voll,
Die sich verschleiert, überfließt
Und eine zweite füllen soll;
Die zweite nun gibt ihre Flut
Der dritten, denn sie wird zu reich,
Und jede Schale strömt und ruht
Und jede nimmt und gibt zugleich.

Da haben wir’s. Gymnasiasten dürfen aufatmen.

Nun, bevor mir der Kopf abgeschnitten und meine profane Version verbrannt wird, wartet noch ein wenig. Anhand dieser "Korrektur" nämlich erkennen wir durch einen Vergleich unmittelbar das Besondere am Meyerschen Original:

"Korrigiert":
"Der Strahl steigt auf; er fällt und gießt
Die runde Marmorschale voll,"
Meyer:
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Zunächst fällt mir auf, dass meine "profane" Version leiert:
"Der Strahl steigt auf; er fällt und gießt
Die runde Marmorschale voll,"
Meyer dagegen:
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Es plätschert so vor sich hin in meiner "Korrektur". Bei Meyer jedoch, besonders durch die Umkehrung "aufsteigt" statt "steigt auf" und die Alliteration (gleiche Anfangskonsonanten) "steigt Strahl", spüren wir sogleich die Wucht der Fontäne, die über das Zeilenende rasch auf das vorgeschobene Wort "voll" der zweiten Zeile "fällt" (Zeilensprung); so wirkt der Gegensatz zwischen Steigen und Fallen recht lebendig.

Man vergleiche Meyers "Aufsteigt der Strahl und fallend gießt" mit "Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale," der ersten Zeile des Goetheschen Sonetts Mächtiges Überraschen, 1807. Trotz des mächtigen Bildes fließt der Strom doch sehr viel ruhiger und epischer in der Goetheschen Zeile. Nun, ein Strom ist keine Fontäne, doch auch bei Goethe rauscht er auf die zweite Silbe der zweiten Zeile und wandelt unaufhaltsam fort in der dritten und vierten:
  Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale,
    Dem Ozean sich eilig zu verbinden;
    Was auch sich spiegeln mag von Grund zu Gründen
    Er wandelt unaufhaltsam fort zu Tale.
Doch zurück nach Rom:

"Korrektur":
"Die sich verschleiert, überfließt
Und eine zweite füllen soll;"
Meyer:
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Meyer staut das Tempo zunächst im Einschub "sich verschleiernd", treibt dadurch aber, um das Verzögern wettzumachen, den Fluss auf das Wort "zweiten". Auch hier entspricht der Zeilensprung dem Überfließen von der höheren in die tiefere Schale. In der zweiten Goetheschen Strophe übrigens staut die eingeschobene zweite Zeile, "- Ihr folgen Berg und Wald in Wirbelwinden -", den Strom:
Dämonisch aber stürzt mit einem Male -
   Ihr folgen Berg und Wald in Wirbelwinden -
   Sich Oreas, Behagen dort zu finden,
   Und hemmt den Lauf, begrenzt die weite Schale. 
Die Oreaden sind Bergnymphen in der griechischen Mythologie: Berg gegen Meer, Oreas gegen Okeanos.

Doch zurück nach Rom:

"Korrektur":
"Die zweite nun gibt ihre Flut
Der dritten, denn sie wird zu reich,
Und jede Schale strömt und ruht
Und jede nimmt und gibt zugleich."
Meyer:
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
     Und strömt und ruht.
Der Einschub "sie wird zu reich" staut noch einmal ein wenig den Fluss; danach - trotz "wallend", trotz "Flut" - beruhigt sich das Wasser und das Zeitmaß verlangsamt. Auffallend sind die vier "unds" in den letzten beiden Zeilen (Polysyndeton) und besonders die "Verkürzung" der letzten Zeile auf zwei Füße. Eigentlich ist es keine Verkürzung, da man beim Sprechen die Zeile dehnt, entweder durch Dehnung der betonten Vokale "ö" und "u" oder durch Pausen.

Meyers Gedicht beginnt sehr bewegt und endet sehr ruhig: es "strömt und ruht". "Strömt und ruht" klingt übrigens wie der Titel: Der Römische Brunnen strömt und ruht.

"Schwankt und ruht" heißt es bei Goethe:
Die Welle sprüht, und staunt zurück und weichet,
   Und schwillt bergan, sich immer selbst zu trinken;
   Gehemmt ist nun zum Vater hin das Streben.
Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet;
   Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken
   Des Wellenschlags am Fels, ein neues Leben.
Zunächst ist der Strom gestaut - Goethe fischt hier mit seinem merkwürdigen "staunt zurück" einen Schwarm von Bedeutungen. Der durch die Macht des Bergs (oder Bergrutsches) überraschte Strom schwillt an zum See und fließt zunächst nicht in den "Vater" Ozean.

In Goethes letzter Strophe  sollte sich das Bild nun beruhigen. Die Welle schwankt noch, dann beruhigt sie sich. Hier ist der See, in dem sich die Sterne spiegeln. Ein idyllisches Bild? Der Goethesche Rhythmus widerspricht. Statt der Meyerschen "unds" haben wir hier Kommata, "spiegelnd sich" ähnelt dem Meyerschen "sich verschleiernd" und staut aufs neue. "Das Blinken / des Wellenschlags" ist ein Zeilensprung und schafft neue Unruhe: "ein neues Leben". Die Wellen des Sees sind hier kleiner, kurzatmiger als der unaufhaltsame Strom der ersten Strophe. Aber Ruhe gibt es nicht.

Bei Meyer gibt es Ruhe. Aber nur in den letzten Zeilen. Der Brunnen strömt und ruht gleichzeitig. Erst in der Nachwirkung des Gedichts verbindet sich die Energie des Anfangs mit der späteren Ruhe. Wir entfernen uns allmählich von dem Wasserspiel bis wir es als "statische Bewegung" empfinden.

Solche Statik, die nur "Impression" ist, finden wir in späteren Sonetten von Henri de Régnier, z.B. in Fête d’eau (Wasserfest) und anderen Sonetten aus seiner Sammlung La cité des eaux, 1902, und, natürlich, in Rilkes bekanntem Sonett Römische Fontäne, welches unsere armen Gymnasiasten bis zum Erbrechen mit Meyers "Brunnen" vergleichen mussten. Beide Gedichte inspirierte derselbe Brunnen, Fontana dei Cavalli Marini, Villa Borghese, Rom.

Hier das Rilkesche Sonett (ich verspreche es, die beiden Fontänen nicht miteinander zu vergleichen):


                Römische Fontäne

Zwei Becken, eins das andre übersteigend
aus einem alten runden Marmorrand,
und aus dem oberen Wasser leis sich neigend
zum Wasser, welches unten wartend stand, 
dem leise redenden entgegenschweigend
und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand,
ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend
wie einen unbekannten Gegenstand; 
sich selber ruhig in der schönen Schale
verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis,
nur manchmal träumerisch und tropfenweis 
sich niederlassend an den Moosbehängen
zum letzten Spiegel, der sein Becken leis
von unten lächeln macht mit Übergängen.
         Rainer Maria Rilke, 1907


Bis heute streiten sich meine Eltern darum, welcher Fontäne der Vorzug gebührt. Zum Schluss also noch mein eigenes Brunnen Gedicht, mit Abstand das beste:


            Die Röm’sche Qual 
Zwei Dichter schreiben eifrig
an einem Röm’schen Strahl.
Aufsteigt er dort. Hier neigt es sich:
Nun haben wir die Wahl.
 
"Oh Rainer, holder Rilke…",
so flüstert die Mamá.
"Da kennst Du nicht den Conrad!",
ruft hierauf der Papà.
 
Wer hat nun Recht? Die Frau Mamá?
Wohl doch der liebe Mann?
Ach was, jetzt reise ich nach Rom
und schau’s mir selber an!

RPW, 2015



Fontana dei Cavalli Marini, Villa Borghese


_____






No comments:

Post a Comment